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Eine Szene oder viele ?

(Der folgende Artikel ist eine Kritik an Vorurteilen, mit denen Menschen unbedacht über andere urteilen, weil sie sich selbst und andere in Schubladen stecken nur etwas über "die" gehört haben, oder vielleicht auch auf ein falsches "wir" verallgemeinern. Es ist ein ziemlich trockener (da emotionslos formulierter) Text, den ich einmal aus gegebenem Anlaß geschrieben habe - wenn Ihnen der analytische Schreibstil nicht zusagt, möchte ich Sie ermuntern, dennoch auf ein paar anderen Seiten meiner Homepage (z.B. [link 154]"Vorlieben"[link 154]) zu stöbern, bei denen weniger Sozial- und Sprachphilosophie betrieben wird - und Lust stärker im Vordergrund steht.)

Normbildung in Gruppierungen von Normabweichlern

Wenn Menschen sich in Gruppierungen (sogenannten "Szenen" oder "Subkulturen" oder "Communities" - für eine weitere Differenzierung betrachten Sie bitte den unteren Abschnitt) zusammenschließen, die sich über ein bestimmtes (oftmals Minderheiten-)Merkmal definieren, z.b. ein von der statistischen Norm abweichendes Verhalten oder eine ideologische Überzeugung, dann bilden sich innerhalb der entstehenden Gruppen wieder Normen. Nicht jeder Mensch, auf den das Merkmal zutrifft, erfüllt automatisch diese gruppeninternen Normen. Es bilden sich daher meist pro Merkmal mehrere unterschiedliche Untergruppen, die dann andere Schwerpunkte setzen, das Merkmal unterschiedlich interpretieren, oder die eine bestimmte Kombination von Merkmalen voraussetzen.

Innerhalb einer Subkultur, die sich aus vielen Individuen mit nur teilweise überlappenden Merkmals-Kombinationen zusammensetzt, entstehen also Sub-Subkulturen. Das läßt sich beliebig fortsetzen. Als konkretes Beispiel betrachte man z.B. die "Subkultur der Homosexuellen" - bei genauerem Hinsehen findet man aber nicht nur allgemein "die Homosexuellen", sondern es gibt dann z.B. wieder "Lesben" und "Schwule", die vermeintlich wieder eigene "Szenen" bilden. Doch auch im weiteren Detail erschließt sich nicht "die Lesbenszene", sondern es gibt z.B. "feministisch motivierte Lesben" und "Frauen, die einfach lieber mit Frauen schlafen" - letztere fühlen sich unter Umständen in feministischen Lesbenkreisen (die sich in separatistisch feministische Lesbenkreise und liberalere Feministinnen unterteilen) derart deplatziert, dass sie von deren Veranstaltungen fernbleiben.

Wenn jemand nur eine "Szene" (bzw. eine Unterszene) kennengelernt hat, innerhalb derer bestimmte Normen sich wiederum etabliert haben, schlußfolgert er/sie wohlmöglich auf einen festen Zusammenhang zwischen Merkmal und Norm, der gar nicht zwingend ist. Zum Beispiel gibt es eine "Schwulenszene", in der häufige Partnerwechsel an der Tagesordnung sind - rein monogam orientierte Schwule werden daneben gar nicht wahrgenommen - und/oder bilden wieder eigene Gruppen.

Ein Beispiel für Subszenen mit kombinierten Merkmalen wären z.B. "BDSM-Lesben" ; und obwohl sowohl BDSM-Lesben als auch BDSM-Schwule als auch BDSM-Heteros zur "BDSM-Community" gehören, gibt es doch deutliche Unterschiede zwischen "den" jeweiligen Szenen und wiederum innerhalb ihrer Unterszenen, z.B. muss man dann die kommerzielle BDSM-Szene von der rein privaten BDSM-Szene wieder unterscheiden etc etc.

Manch ein Individum fügt sich in mehrere Szenen ein, in die es wiederum ggf. nur partiell passt, z.B. eine BDSM-Bi-Frau sowohl in "die" BDSM-Lesben-Szene als auch in "die" BDSM-Hetero-Szene. Oder, aus anderem Blickwinkel betrachtet, in keine von beiden.

Wenn man also glaubt, etwas zu kennen - z.B. ein charakteristisches Verhaltensmerkmal "der Szene" - , dann muss man bedenken, dass man diese oftmals nur aus einem ganz bestimmten Blickwinkel gesehen hat.

Szene, Subkultur, Community: Wortklaubereien

Beim Verfassen des obigen Abschnittes fiel mir erst auf, daß ich "Szene", "Subkultur" und "Community" als Synonyme verwende. Daraufhin wollte ich es genauer wissen und habe mich nochmal gezielt belesen. Zum Beispiel muß man erst das Wort "Kultur" verstehen, bevor man das Wort "Subkultur" erklären kann. Letztlich bin ich für mich selbst zu dem Schluß gekommen, daß es für die Umgangssprache wohl nicht notwendig ist, hier Unterscheidungen zu treffen - im obigen Abschnitt habe ich daher auch keine Korrekturen vorgenommen. Für mich selbst sowie diejenigen unter Ihnen, die ebenfalls manchmal gern Erbsen zählen, habe ich trotzdem im folgenden Paragraphen das (vorläufige) Resumée meiner Recherche niedergeschrieben.

Subkultur versus Szene

Eine Kultur ist -im Gegensatz zur vom Menschen unberührten Natur- "Menschengemachtes", und zwar z.B. Technik, bildende Kunst, geistige Konstrukte sowie Konstrukte der Zivilisation (Ideologien, Religionen, Gesetze, Währungen, philosophisch-anthroposophische Anschauungen). Der deutsche Sprachgebrauch unterscheidet "Kultur" und "Zivilisation" so, daß erstere die "Idee der Moralität" inkludiert und letztere sich nur aus rein pragmatisch motivierten Entwicklungen speist; Kultur wäre demnach eine moralbewußte Zivilisation. Kultur ist demnach geprägt von Normen - "die Kultur" ist immer -auf die jeweilige Epoche und das jeweilige Gebiet bezogene- "die Kultur der Herrschenden" und/oder "die Kultur der Mehrheit". Da es immer einzelne Menschen gibt, die andere Normen vertreten (oder denen andere Normen auferlegt werden, z.B. durch Ghettoisierung), und diese sich wiederum gegebenenfalls nach bestimmten Kriterien zusammenschließen (bzw. die zwangsweise zusammengeschlossen werden), kann man dann im Gegenzug zur "Mainstream-Kultur" von "Subkulturen" (bzw., wenn zentrale Normen der Hauptkultur entgegenstehen, sogar von "Gegenkultur") sprechen.

Im engeren soziologischen Sinn ist es für eine "Subkultur" nach gängigstem Verständnis charakteristisch, daß es eine deutliche Abgrenzung zur "Mainstream-Kultur" (oder einfach: Hauptkultur) gibt - wenn es nur ein freiwilliger Zusammenschluß aufgrund eher sekundärer Merkmale ist, die nur einen -wenn auch u.U. wichtigen- Teil des Lebens betreffen, während bzgl. fast aller sonstigen Lebensbereiche die Hauptkultur voll adaptiert wird, spricht man eher von Szene.

Hierzu ein erläuterndes Zitat aus Wikipedia: Während die meisten Homosexuellen bei der Arbeit und zum Teil auch im Privatleben mit heterosexuellen Personen einen Großteil der Zeit verbringen und ihrer sexuellen Orientierung allenfalls einen geringen „identifikatorischen“ Wert beimessen, gibt es auf der anderen Seite Personen, deren ganzer Lebensvollzug (z. B. auch eine Arbeitsstelle innerhalb der Szene) sich innerhalb der Gruppe abspielt und die dabei Überzeugungen entwickelt haben, die der herrschenden „Heteronormativität“ zuwiderlaufen. Somit wäre nur auf die letztgenannte Teilgruppe der Subkulturbegriff in gewissem Maße zutreffend.

Eine von anderen Forschern (Dannecker und Reiche 1973) geprägte, nach meinem Verständnis der vorgenannten Definition zuwiderlaufende Definition von Homosexuellen-Subkultur ist auf derselben Seite gegeben: Alle Orte, an denen sich Homosexuelle nicht nur zufällig treffen, seien sie nun öffentlich zugänglich oder nicht.

Hingegen wird Szene nach gängigem soziologischen Verständnis wie folgt erläutert: Eine Szene ist ein soziales Netzwerk in Form eines freizeitlichen Sozialisationsraumes, das durch gemeinsame Interessen, Überzeugungen, Vorlieben oder Geschmäcker von Menschen verdichtet ist.[…]Szenen sind ‚freiwillig‘ wähl- und betretbar, sie sind global und dabei sozial offen.

Ich schlußfolgere: Auch Soziologen verwenden keine einheitlichen Termini, sondern müssen ihr Begriffsverständnis stets in den jeweiligen Fachartikeln erläutern. Die Subkultur-Definition von Dannecker und Reiche wäre gemäß der anderen beiden Auffassungen wohl eher zutreffend für den Begriff der Szene.

Community bzw. Gemeinschaft

Eine Community bzw. wörtlich übersetzt eine Gemeinschaft ist laut Wikipedia soziologisch gesehen eine "überschaubare soziale Gruppe, die durch ein starkes Wir-Gefühl miteinander verbunden ist."

Die im Artikel zuerst genannten Beispielgruppe wie Familie, Clan, Horde sind tatsächlich überschaubar, als modernere Formen werden durch Ideologien entstehende freiwillige Zusammenschlüsse wie Wirtschaftsgemeinschaften, Religionsgemeinschaften oder emanzipatorische Gemeinschaften bezeichnet.

Ich denke bei dem Übergang vom traditionellen Wortverständnis zum moderneren Wortverständnis an den oft gehörten Satz "We are a family" und würde das Wort "Community" bei bewußtem Sprachgebrauch daher wohl am ehesten verwenden, um das Geborgenheitsgefühl zu betonen, daß eben auch unüberschaubarere Gruppen aufgrund gemeinsamer Merkmale (zu Recht oder zu Unrecht, vgl. den oberen Abschnitt) miteinander verbinden kann.

Bei der Gemeinschaft im engeren Sinne spräche man also eher von Gleichbetroffenen (insbesondere von gleicher Herkunft Betroffenen), bei der Gemeinschaft im weiteren Sinne eher von Gleichgesinnten (die sich teils bewußt von ihrer Herkunft lösen und statt den "Familien" bessere "Wahlfamilien" zu bilden bemüht sind bzw. zu finden hoffen).

Ob im englischen Sprachgebrauch "community" nochmals anders verwendet wird als im deutschen "Gemeinschaft", ist ggf. noch Gegenstand weiterer Forschungsstatistiken, dies habe ich allerdings nun nicht weiter vertieft. Für meine Bedürfnisse genügte erst einmal das hier ausgeführte Grundverständnis.

Mein Fazit in einfachen Formeln

Für mich selbst habe ich (als Soziologie-Laiin! gerne lasse ich mich noch korrigieren!) die Erkenntnisse wie folgt "auf den Punkt" gebracht - man betont mit den unterschiedlichen Wörtern verschiedene Aspekte eines Zusammenschlusses von Gleichgesinnten und/oder von Gleichbetroffenen:

Subkultur = Gemeinschaft, die sich weitgehend von der Hauptkultur trennt;

Szene = Gemeinschaft, die sich nur auf bestimmte Lebensbereiche bezieht

Gemeinschaft kann freiwillig oder unfreiwillig entstehen; Szene ist immer freiwillig

Da wir -zumindest im Hinblick auf Erotikvorlieben und/oder sexuelle Orientierungen- bei Verwendung der Ausdrücke "Szene", "Community" oder "Subkultur" allerdings seltener betonen wollen, warum (= aus welchem Aspekt heraus) Menschen mit demselben Merkmal einen Zusammenschluß bewußt oder unbewußt gebildet haben, sondern auf welches Merkmal (z.B. Homosexualität, BDSM etc.) eines Zusammenschlusses wir uns jeweilig beziehen wollen, kommt es tatsächlich auf die saubere Unterscheidung der hier diskutierten Begriffe für den Zusammenschluß an sich nicht an. Was wir allerdings nicht aus dem Auge verlieren sollten, sind dennoch die Ermahnungen des ersten Abschnittes, auch aus dem jeweiligen Merkmal heraus keine voreiligen verallgemeinernden Schlüsse über "die" jeweiligen Individuen zu ziehen. Entsprechende Aussagen sind immer vor einem bestimmten Kontext zu sehen - dieser sollte stets mitkommuniziert und ins eigene Denken bewußt einbezogen werden!


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