(Diesen Text habe ich anläßlich meiner jüngsten Erlebnisse auf dem Wave-Gotik-Treffen (kurz: WGT) geschrieben. Dort trifft sich die "schwarze Szene", wozu insbesondere die Gothics gehören - aber auch einige BDSMer/innen fühlen sich zugehörig, ohne zwangsläufig Gothics zu sein. Gothics definieren sich über einen bestimmten Musik-Geschmack, bestimmten Kleidungsstil und eine bestimmte Lebenshaltung - natürlich sind auch die Gothic-Szene bzw. die übergeordnete "schwarze Szene" bei genauerem Hinsehen ebenso vielfältig wie andere Szenen. --- Mark Benecke ist ein Kriminalbiologe, der sich wegweisend in Deuschland in der forensischen Entomologie hervorgetan hat, der Analyse von Todesfällen anhand von Insekten und Insektenspuren. Privat gehört er selbst der Gothic-Szene an und hält auf den WGT regelmäßig Vorträge über sein spannendes Arbeitsgebiet.)
Mein Coming-Out als Bi-Frau ist 20 Jahre her. Bei meinem ersten Lesbenfrühlingstreffen war ich erstmals “oben ohne” auf der Straße. In der Demo waren noch andere Frauen barbusig marschiert. Ohne nachzufragen, was sie damit verbanden, hatte ich auch mein Top ausgezogen und mich so glücklich wie selten zuvor gefühlt.
Die Sehnsucht, mich mit derselben Selbstverständlichkeit genauso weit zu entkleiden, wie Männer es taten, kannte ich schon länger. Ich erinnere mich an einen Disco-Abend, wo ich auf einer Lautsprecherbox am einen Ende des Raums tanzte, auf der anderen Box gegenüber ein junger Kerl. Wir tanzten synchron - er bewegte die Hüften, ich ebenso. Ich schwenkte die Arme, er fand denselben Rhythmus. Wir gingen gleichzeitig in die Knie. Er zog sein Shirt aus - ich machte mit. Das löste dann eine Lautsprecheransage aus: “Die junge Dame auf der Box da - so geht das nicht: sofort wieder das Top anziehen, sonst Hausverbot.” Ich fand es ungerecht. Es war stickig in der Disco, und fast alle Jungs tanzten mit freiem Oberkörper.
Außerdem hatte die Durchsage unseren Gleichklang ruiniert. Und der Typ durfte etwas, was mir verwehrt war. (Und kurz hatte ich fühlen können, wie viel besser es sich halbnackt tanzte!)
Nun jedoch auf der Lesben-Demo schien die Ungerechtigkeit der Welt für einen magischen Moment aus den Angeln gehoben. Ich freute mich auf meinen ersten CSD. Und darauf, wieder diese Freiheit zu genießen. Inzwischen hatte ich sogar ein Nippel-Piercing, wie ich es zwischenzeitlich bei anderen Schwulen und Lesben hatte bewundern dürfen. Stolz zog ich mein Top aus, sobald ich die CSD-Parade erreichte. Dort gab es nackte Männer-Ärsche unter Chaps, dort gab es sogar nur mit Strick-Kondomen überzogene Schwänze: aber ich war die einzige Frau, die ihre Titten zeigte. In Köln! Die Schwulen würdigten dies weder positiv noch negativ, sie schienen es für egal und/oder normal zu halten. Aber die Frauen tuschelten oder machten abfällige Bemerkungen, als würde ich unser ganzes Geschlecht durch mein Verhalten in den Schmutz ziehen. Ich war gekränkt und verwirrt: Wollten die nicht alle auch dieselben Rechte wie die Jungs?
Noch ein paar Jahre später: Wacken, Metal-Festival, ein heißer Sommer. Direkt aus dem Metal-Train mit schwerem Gepäck zum Zeltplatz gestapft, in der Menge vieler anderer Leute - meist Männer. Bevor sie die Zelte aufstellen, ziehen sie erstmal in der sengenden Hitze die T-Shirts aus. Ich überlege kurz, dann tue ich es ihnen nach. Befreiend. Vor feministischen Anfeindungen muss ich mich hier nicht fürchten. Die oft dennoch befremdeten, vielleicht gar feindseligen Blicke ignoriere ich - da ich nicht allein bin, fühle ich mich sicher. Später sagt mir mein Freund, wie unwohl er sich in dieser Situation gefühlt hat.
Auch noch in den folgenden Tagen beschließe ich, es mir nicht unbequemer zu machen als alle anderen. Das bringt mir viele Kommentare im Vorbeigehen ein: “Denkst du, du hast schöne Titten oder was?” Nein, eigentlich habe ich das nicht gedacht. Ich wollte die gleiche Sonne und den gleichen Wind wie ihr.
Und ich dachte, hier sei man auch tolerant genug. Niemand würde hier Probleme wegen “öffentlichen Ärgernissen” machen. Das macht auch keiner. Die Männer reagieren unverständig, beleidigend oder aufgegeilt, aber ich bewahre meinen Stolz und meine Würde und lasse meinen verschwitzten Oberkörper mit anscheinend derselben Selbstverständlichkeit draußen, die für “die anderen” normal ist. Auch, wenn es Kraft kostet. Und Erklärungen.
Zuhause diskutiert mein Freund mit mir darüber, wie anstrengend es für ihn gewesen sei. Dauernd habe er während der unerfreulichen Diskussionen damit gerechnet, daß es gleich eine Schlägerei gäbe und er mich verteidigen müsse. Er gäbe mir zwar recht, daß im Zuge von Gleichberechtigung Frauen denselbem Kleidungs- bzw. Entkleidungskomfort wie Männer haben sollten, aber da es offenbar gesellschaftlich nicht so gesehen würde: wäre es das wirklich wert?
Künftig hielt ich mich auf Veranstaltungen, die ich mit ihm gemeinsam besuchte, dezent zurück. Benahm mich “unauffällig”. Und bei denen, die ich allein besuchte, wog ich Jahr für Jahr ab, ob es das wert sei. Bei einem Berliner CSD, den ich auch selbstbewußt (im Sinne von: selbst-bewußt) tittenfrei besuchte, schrieb ich mir vorher ein Plakat, welches ich wie ein Schutzschild vor mir hertrug: “Ich gehe hier bewußt zur Demo, obwohl und weil ich weiß, daß eure Verachtung mich wieder verletzen wird.”
Leider kapierten die Leute nicht, was ich mit diesem Schild meinte. Es gab dennoch verächtliche Kommentare von Frauen, und die Umstehenden machten massenweise Fotos, aber aus offensichtlicher Schaulust. Nichts von Selbstverständlichkeit. Und mein Plakat wurde natürlich auch nicht fotografiert, nur die Nippel.
Ich diskutierte mit feministischen Frauen auf LGBT-Parties, ich mied andere Events, weil ich mich dort nicht aufzufallen traute.
Über die Jahre stellte es sich ein, daß ich mehr und mehr die Konfrontation mied. Bequemer wurde. Mich anpaßte. Nicht mehr “provozierte”, obwohl doch Provozieren nie das Ziel gewesen war. Nur der Nebeneffekt davon, mich so zu verhalten, wie ich es auch selbst-bewußt für gut und richtig hielt. Und für fair.
Ich bin älter geworden. Ich hatte die Kämpfe der frühen Jahre fast vergessen. Kürzlich erfuhr ich von der Kampagne “Free the nipples” und gab ihr ein “Retweet” und ein “Like” in den sozialen Netzen. Aber das war alles.
Wave-Gotik-Treffen. Dieses Jahr. Mark Benecke spricht. Er sagt etwas, was ich ihn früher schonmal sagen hörte, aber diesmal erschüttert es mich irgendwie: “Wenn man glaubt, etwas Offensichtliches zu verstehen, irrt man meist. Man muss hinterfragen, nachfragen.”
Absurderweise passiert es ihm selbst kurz darauf, daß er auch von etwas überzeugt ist und sich dennoch irrt: ein Aufblitzen im Publikum hält er für einen Kamerablitz, dabei ist es nur ein Knicklicht….
Und dann hält er seinen Vortrag über Leichen und Blutspuren, und ich höre ihm erstmal interessiert zu und vergesse wieder fast die Weisheit über die Nicht-Offensichtlichkeit der Dinge.
Doch dann wechselt Benecke nochmal das Thema und spricht davon, daß die Gothics inzwischen nicht mehr so rebellisch sind wie früher. Daß er sich manchmal wundert, wie träge die schwarze Masse geworden ist. Er war früher noch engagiert. Das ergibt sich doch auch von selbst, wenn man auffällt, schon durch die Kleidung. Man ist es gewohnt, anzuecken, dadurch daß man einfach man selbst ist. Hier im WGT sind wir natürlich alle geschützt, das ist doch auch ein schöner Rahmen, aber wir sollten doch auch wieder versuchen, “draußen” etwas zu bewegen.
Das berührt mich wieder. Das beschämt mich. Im ersten Moment verstehe ich gar nicht, wieso. Erst denke ich, es liegt daran, daß ich nichtmal in der “schwarzen Masse” ordentlich schwarzgekleidet bin. Ja, ich hab eine schwarze Jeans und ein dunkles Top an, aber ich habe mir keine wahre Mühe gegeben, mich gothichaft zu stylen. Warum eigentlich nicht?
Nicht mal sm-ig, obwohl daheim mein Kleiderschrank mit Lederkorsetts und Humpelröcken voll ist.
Aber dann fällt mir ein: Gothic bin ich nicht wirklich, und die oben genannten BDSM-Klamotten empfinde ich eher als “Arbeitskleidung” denn als privates Fetisch-Outfit. Privat spiele ich auch in meinen BDSM-Sessions immer am liebsten nackt. Und ziehe nur dann auf Playparties etwas aus Leder an, wenn es den entsprechenden Dresscode gibt. Auch darin zeigt sich nicht mein wahres Selbst. Was ich wirklich bin, was ich wirklich will, das habe ich verdammt lange verborgen. Das verberge ich auch gerade, obwohl ich doch auch auf dem WGT zumindest wieder in einem Umfeld bin, wo ich nicht mit ernsthaften Problemen (à la Polizei und Verstoß gegen Sittlichkeitsgesetze) rechnen muss.
Ich erinnere mich an meine Freundin Vera, die mir damals das Konzept einer “Binnen-Demo” erklärt hat. Nicht als Gruppe nach außen hin die Meinungen aufweichen, sondern dies als Individuum innerhalb der Gruppe tun. Ich erinnere mich daran, daß ich schon früher öfter den Gedanken hatte, mir für die vielen ärgerlichen Diskussionen rund um meine “provokanten” Titten einfach mal eine Visitenkarte zu drucken, die ich jedem Pöbler und jeder Pöblerin in die Hand drücken könnte. Eine Karte mit einem kurzen Text, der erklärt, worum es mir geht (Freiheit! Gleichberechtigung! Wärmeregulation! Körpergefühl für mich selbst!) und worum nicht (Provokation! Bewunderung für “schöne” Brüste! Aufmerksamkeit für “schöne” Brüste! Leute aufgeilen!) und dann die Frage stellt, ob ich nicht auch dasselbe Recht dazu hätte wie 50% der Bevölkerung?
Der Gedanke an die Visitenkarte, es hatte ihn öfter gegeben. Aber der passende Satz war mir nie eingefallen. Ich hatte mich nur in manchen Situationen, als ich mich noch traute, halbnackt zu tanzen oder Demos zu besuchen, darüber geärgert, keine Karte zu haben. Und dann hatte ich eben irgendwann aufgehört, es überhaupt zu tun.
Heute abend, am WGT, tanze ich erstmals seit Jahren wieder “oben ohne”. Etwas verschüchtert ziehe ich in einer Ecke der Agra-Halle mein Shirt aus. Inzwischen sind die Titten wirklich nicht mehr mainstream-schön, sie hängen ein bißchen zu sehr. Dann beginne ich zu tanzen. Ich kann wieder feststellen, daß es keine Selbstverständlichkeit ist, was ich tue, denn Vorbeilaufende bleiben stehen und starren mich an und tuscheln - und das auf einem Festival, wo kurioseste Gestalten und Kostüme zu sehen sind. Aber ich erinnere mich dran, daß “Gothics früher mal rebellisch” waren, und daß ich mich selbst verloren habe. Und ich schreie immer dann, wenn mich Verzagtheit überkommt, gegen die laute Musik an: “Ich bin wieder ich!”
Das hilft. Abends, auf dem kurzen Weg von Agra zu Zelt, stellt sich dann nochmal die heikle Frage: nun bedecken, oder nicht? Ich entscheide mich dagegen. Wie gesagt, ein Gothic-Festival sollte das meiner Meinung nach aushalten können. Und ich dort auch.
Dennoch schmerzt es, als im Vorübergehen wieder eine Frau lamentiert: “Muss das sein? Mensch, zieh dir doch was über, Mädel!”
Ich drehe mich um, laufe ein paar Schritte zurück, rede auf sie ein. Will ihr erklären, warum das sein muss. Versuche sogar, ihr darzulegen, wie ich meinen Mut gerade heute durch den Benecke-Vortrag erst wieder bekommen habe. Aber sie winkt ab und geht eilig mit ihrer Begleitung weiter, macht nur noch ein Handzeichen, daß sie mich für plem-plem hält….
Aber da ist dieser Benecke-Satz wieder in meinem Kopf: “Wenn man glaubt, etwas Offensichtliches zu verstehen, irrt man meist. Man muss hinterfragen, nachfragen.”
Ist das der Satz für meine Visitenkarte? Es würde die Männer und Frauen, die mich missverstehen, nicht mit wirren Worten (üblicherweise werde ich hektisch unter dem vermeintlichen Druck, eine Rechtfertigung abliefern zu müssen) zutexten, aber ein Gesprächs-Angebot liefern. Dazu noch ein Link zu meiner Webseite. Vielleicht direkt zu diesem Artikel. Und natürlich eine Email-Adresse oder ein Kontaktfeld, damit man auch wirklich nachfragen kann. Damit ich Leuten, die das Offensichtliche gesehen zu haben meinen, eventuell etwas Tieferes, Anderes und Emanzipatorisches erklären kann. Vielleicht. Oder zumindest weiß, daß ich es “rebellisch” versucht habe.
Ich werde Benecke bitten, ob ich ihn mit diesem Satz zitieren darf, und mich auf dieses Erlebnis, diesen Abend berufen …. ob er wohl in einem Atemzug genannt werden will mit nackten Titten? Ich bin gespannt und hoffe auf ein Ja.
Das "Ja" habe ich bekommen, ich erhielt sogar folgendes schönes Feedback:
Liebe Sara,
das ist ein extrem cooler Text, ganz direkt und nicht glatt gebügelt — toll, schön, nach meinem Geschmack!
Falls du einverstanden bist, würde ich ihn auch auf meine Website hauen.
Das meldet erfreut und sehr herzlich von einem Vampyr-Kongreß auf einem Schlößchen
marky mark