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Prokrastination & Hedonismus

Als "Prokrastination" (lat. "pro"="für", "crastinum"="morgen") wird es bezeichnet, wenn man Dinge ständig auf einen anderen Tag verschiebt.

Die Philosophie des "Hedonismus" (altgriech. "hedone" = "Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde") besagt, dass natürlich-menschliche (intrinsische) Motivation stets Streben nach Sinnenlust und -genuss sei, sowie die Vermeidung von Schmerz und Leid. Je nach Strömung werden andere Motivationen (z.B. Pflicht) dennoch zum ethischen Prinzip erklärt, oder eben nicht. (Meist spricht man umgangssprachlich nur von Hedonismus, wenn jemand sich dazu bekennt, seine Prioritäten nach hedonistischer Motivation festzulegen.)

In diesem Essay beschäftige ich mich mit der Frage, inwieweit Prokastination hedonistisch ist bzw. sein kann, zwanghaft ist bzw. sein kann, und worin ggf. ihre Ursachen liegen bzw. liegen könnten.

Es ist zu beachten, dass der Begriff "Hedonismus" heutzutage eine Bedeutungsverschiebung erhalten hat, die ich natürlich auch thematisieren werde.

Prokrastination …

"Morgen, morgen, nur nicht heute", sagen nur die faulen Leute.

ist ein bekanntes Sprichwort.

… als Zwangsstörung

Wenn man von Prokrastination redet, meint man allerdings meist Leute, die beim Verschieben selbst einen Leidensdruck verspüren, z.B. ein ständiges schlechtes Gewissen fühlen und trotzdem nicht anders können.

Laut Wikipedia ist Prokastination "eine pathologische Störung, die durch ein unnötiges Vertagen des Beginns oder durch Unterbrechen von Aufgaben gekennzeichnet ist, sodass ein Fertigstellen nicht oder nur unter Druck zustande kommt. Sie muss unterschieden werden vom [normalen] Trödeln, vom Vertagen aufgrund anderer, nötiger Prioritätensetzung sowie von einem erfolgreichen Arbeiten kurz vor einer Frist, wodurch es weder zu Leistungseinbußen noch zu subjektivem Leiden kommt."

Insofern ist die o.g. Frage knapp beantwortet: Prokrastination ist zwanghaft. Per Definition. Weil "Prokrastination" ein als medizinischer Fachbegriff geprägtes Kunstwort ist.

Und was aus einem Zwang resultiert, entspricht nicht "einfach nur" hedonistischer Überzeugung. So kann man es sich (und vor allem anderen gegenüber) evtl. "schönreden", aber davon hört das eigene Leiden dann auch nicht auf.

… als Ausdruck einer Ambivalenz

Wenn jemand aber so offensichtlich in einem Dauerkonflikt lebt, das eine zu wollen und das andere zu tun, bzw. etwas tun zu wollen und es dennoch zu unterlassen, bzw. etwas bald erledigen zu wollen und es doch erst auf den letzten Drücker oder immer erst verspätet abzuwickeln, dann ist dies sehr oft ein deutlicher Ausdruck einer dauerhaften Ambivalenz. (Eine Ausnahme, die mir diesbzgl. einfällt, wäre faktische Inkompetenz oder sonstige Vereitelung, das Gewollte zu tun. Eine evtl. weitere Ausnahme wäre eine depressionsbedingte Antriebslosigkeit, die sämtliche Aktivitäten umfasst. Auf beides gehe ich später noch ein)

Und diese Ambivalenz ist es, die es dann näher zu untersuchen gilt, beispielsweise in einem Coaching oder einer Psychotherapie.

Diese Ambivalenz kann sich auf einen inneren Konflikt zwischen hedonistischem Ideal und anerzogener (protestantischer) Arbeitsmoral beziehen.

Wird dieser innere Konflikt (bzw. werden diese inneren Konflikte - es kann ja mehrere geben!) gelöst und gelangt die betroffene Person zu Entscheidungsfähigkeit, entfällt künftig der Zwangscharakter und tritt somit eine Heilung ein. Danach erst ist die Person in der Lage, Prioritäten willentlich zu setzen und Aufgaben (selbst)bewußt anzugehen oder zu vertagen, ggf. abzulehnen (= als unwichtig abzutun oder sie zu delegieren) und/oder mangelnde Kompetenzen aufzubauen.

… als Ausdruck von (tatsächlicher oder befürchteter) Inkompetenz

Auch dann, wenn ein Konflikt zwischen dem natürlichen Wunsch nach Freude, Freiheit und Schmerzvermeidung und dem auferlegten Pflichtgefühl besteht, kann der eigentliche Grund für die permanente Vertagung dennoch nicht in erster Linie der Unwillen zur Pflicht sein, sondern die Angst vor dieser. Angst kann lähmen. Der Effekt wäre dann ähnlich wie bei einer Depression (siehe unten).

Dabei spielt keine Rolle, ob es sich um eine konkret begründete Versagensangst bzgl. der Anforderungen handelt oder um allgemeine Selbstunsicherheit / mangelndes Selbstvertrauen. Bedauerlicherweise kann Selbstvertrauen nur durch das Übernehmen von Verantwortung gestärkt werden. Man muss also mut-willig (mit dem Willen, den Mut trotz Angst zu fassen) die Aufgaben beherzt (statt auf letzten Drücker halbherzig) angehen, um feststellen zu können, dass man eine Fähigkeit tatsächlich hat (oder erwerben kann) und somit künftig der Angst den Boden entziehen kann.

… für Fremdstrukturierung des Tages

Hier handelt es sich auch um eine Inkompetanz, aber nicht um Inkompetenz bzgl. der Ausführung der zu erledigenden Aufgabe, sondern um mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Aufgaben sinnvoll zu priorisieren und einen Tag sinnvoll zu strukturieren. Es ist eine "Eselsbrücke", einfach das jeweils "kurz vor Schluß" zu tun, wenn es nicht mehr anders geht - weil dadurch die Prioritäten durch die externen Notwendigkeiten (und somit durch irgendetwas, was nicht selbst bewußt ent-schieden wird) vorgegeben (zu) werden (scheinen).

… als Ausdruck von Antriebslosigkeit

Desweiteren vermute ich, dass Prokastination auch Nebenwirkung einer anderen Erkrankung sein kann, insbesondere einer Depression oder einer mit Depressionen einhergehenden sonstigen Störung.

Dann wäre es zur Heilung ggf. nötig, diese Depression aufzulösen. Und dazu müßte ggf. die Ursache der Depression untersucht werden. - Möglicherweise ist die Depression die Folge von der o.g. Ambivalenz, womit dieses Problem auf das zuvor genannte zurückzuführen würde.

Möglicherweise hat die Depression aber auch andere Ursache. Ggf. hemmt jedenfalls die Depression alle Aktivitäten und es braucht einen katalytischen Umstand (z.b. wirtschaftliche Notwendigkeit und/oder erhöhte Adrenalinproduktion), um diese Hemmnisse zu überwinden. Falls immer erst ein Schwellenwert an Dringlichkeit oder Besorgnis erreicht werden, bevor der Betroffene irgendetwas (oder irgendetwas, was bestimmten Zielen dienlich ist) in Angriff nehmen kann, würde dies auch zum Prokrastinationsmuster passen.

… als Konsequenz realer Überlastung durch "zu viele" Aufgaben

Prokrastination kann ein stummer Hilfeschrei sein - es kann eine so große Menge an Aufgaben geben, dass diese tatsächlich in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu bewältigen wären. Dabei ist zu bedenken, dass im Industrie- und im Computerzeitalter jeweils völlig neue Aufgabenfelder erschlossen wurden und Menschen zu früheren Zeiten wirklich überschaubarere, eindeutigere Wirkungsfelder hatten.

Ebenso könnte es sein, dass diese übergroße Menge an (vermeintlichen) Aufgaben sich erst durch überzogene Moralansprüche ergibt.

Zwar spricht man nicht von Prokrastination, wenn "dauerhaft gerödelt, aber nicht getrödelt" wird, aber dennoch kann es notwendig sein, bzgl. der Prioritäten der jeweiligen Aufgaben bewußte Entscheidungen zu treffen. Dabei ist zu erwägen, ob "Ruhezeit" als eine notwendige oder zumindest sinnvolle Aufgabe der Rekreation bewußt einbezogen werden sollte. (Die jüdische und christliche Religion sahen beispielsweise den "Shabbat" bzw. den "Sonntag" dafür vor. Es kann aber auch der Feierabend oder das Hobby sein - jeweils mit Überprüfung, ob dies wirklich als "Erholungszeit" oder nur als neues "Sich-Zubomben" zählt.)

… aufgrund mangelnder Selbstdisziplin

Mangelnde Selbstdisziplin, das wäre knapp gesagt in vielen Fällen einfach Faulheit. Aber aus Faulheit würde man ja nichts leidvoll vor sich hinschieben, sondern könnte dann hedonistisch das Faulenzen genießen. Ob dies eine berechtigte und erwägenswerte Option ist oder zumindest phasenweise sein kann, dieser Frage sollte man sich nicht verschließen.

In anderen Fällen, u.a. einigen der o.g. Fälle, wäre mangelnde Selbstdisziplin dann eben wieder mangelnder Mut. Tatsächlich kann durch Disziplinierungen, die zum Angehen der Aufgaben zwingen und einen sozusagen über die Klippe werfen, in einigen Fällen das Kompetenzbewußtsein wachsen. Das ist aber eine sehr heikle Sache, die beide Seitenn (= die disziplinierende Person und die zum Diszipliniert-Werden einwilligende Person) sehr risikobewußt angehen können. Dies kann ggf. in einem BDSM-Play oder insbesondere in Daddy/Girl- und/oder TPE-Dynamiken einfließen, wird damit aber zu "echter Erziehung" & vorher muss bewußt entschieden werden, ob die angestrebten Erziehungsziele wirklich für die gewünschte Persönlichkeitsentwicklung förderlich oder gar hinderlich sind.

Hedonismus

Wenn die Ambivalenzen und Zwänge beseitigt sind und verzichtbare Aufgaben ad acta gelegt werden und unverzichtbare Aufgaben sinnvoll priorisiert, dann kann sich ggf. ein hedonistische Ideal entfalten: Nun kann man sich frei pro Lust entscheiden - sofern mit der individuellen Moral noch vereinbarbar.

Es gibt historisch bzw. in verschiedenen philosophischen Strömungen unterschiedliche Vorstellungen davon, was "Lust/Genuß" ausmacht. Zum Beispiel war Epikur der Meinung, dass Ataraxie (vollkommene Seelenruhe) die höchste Lebenslust ausmache - er hat vorübergehende (dynamische) Lustgefühle von sog. katastemischer Lust (als dauerhaftem Lebenszustand) unterschieden. Epikur geht davon aus, dass ein tugendhafter Mensch mit dauerhaft gemäßigtem Verlangen (ohne "unvernünftige" Begierden) die höchste Zustandslust erreicht. Das meinen wir meist nicht mit Hedonismus, eher - wie Aristippos von Kyrene- die Lust des Augenblicks bzw. im Rückblick auf das gesamte Leben die Summe solch lustvoller Augenblicke (quantitativer Hedonismus).

Hedonismus kann eine philosophische These darstellen, dass nur Lust das Leben "gut" macht bzw. nur Lust einen individuellen Wert darstellt, ohne dass dadurch gleich eine Aussage getroffen würde, dass es nicht auch Pflichten geben kann und/oder man diesen nachgehen sollte - Hedonismus als Theorie vom Lebensideal ist also mit deontologischer Moral / Pflichtmoral durchaus vereinbar. Ggf. vereitelt einfach die Pflichterfüllung dann das Erreichen des Ideals, und das kann trotzdem richtig sein!

Erst wenn hedonistische Motivationen bewußt (immer oder gelegentlich, ausschließlich oder abwägend) als Entscheidungskriterien für das Handeln herangezogen werden, entwickeln sich verschiedene hedonistische Ideale daraus. Dies kann mit Amoralismus einhergehen (ausschließlich individueller Nutzen wird maximiert), aber auch mit Utilitarismus (der Gesamtnutzen aller Betroffenen wird maximiert).

Persönlich finde ich es durchaus wichtig abzuwägen, inwieweit mein persönlicher (hedonistischer) Nutzen anderen Personen schadet. Eventueller Egoismus wird also durch Moralerwägungen ("Was du nicht willst, was man dir tu, …") beschränkt. Innerhalb der individuellen Handlungsfreiheit -insbesondere in Bereichen, die nur meinen eigenen Lebensstil bzw. die Gestaltung meines persönlichen Lebensraums betreffen, halte ich es für sinnvoll, hedonistische Wertmaßstäbe verstärkt anzulegen. Dies setzt Freiheit von Zwängen und bewußte Entscheidungen voraus. Und es beinhaltet die bewußte Bewertung und Priorisierung von Aufgaben (incl. Ruhephasen).

Die Lust am Genuß : Aber wenn schon, dann richtig!

Von der SM-Buch-Autorin Kathrin Passig ("Die Wahl der Qual") gibt es ein gemeinsam mit Sascha Lobo herausgegebenes Buch, das einige wirklich interessante Denkansätze bietet: "Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin".

Passig bekennt sich in ihrem Buch zum lustvollen Prokrastinieren, was dann eigentlich kein Prokrastinieren mehr ist: Es ist stattdessen dann ein bewußtes Vertagen von unverzichtbaren Aufgaben oder ein entschiedenes Ablegen von vermeintlichen, aber de facto doch verzichtbaren, Pflichten.

Von Passig stammt dieser Appel:

Leiden einstellen! Wer einen am Lustprinzip orientierten Lebenswandel führt, ist verpflichtet, dabei auch glücklich zu sein. Nur so kann man seine Mitmenschen vom Pfad der freudlosen Pflichterfüllung abbringen.

Selbst was Fernziele anbelangt, die genußarme Durststrecken erfordern mögen, kann die Genuß-Perspektive eine wichtige Entscheidungshilfe sein: Wird ein angestrebtes Ziel, wenn es tatsächlich erreicht wurde, Genuß bringen - ist es somit für Sie subjektiv tatsächlich attraktiv?


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